Macht es richtig, oder lasst es!

Warum so viele Startups ihre Zeit mit eigentlich tollen Tools verschwenden

Eigentlich haben wir es verdammt gut. Eigentlich. Denn wir haben großartige Tools, die wir für unsere Startups nutzen können. Die uns helfen können, all die vielen Baustellen, mit und auf denen wir arbeiten müssen, zu überblicken, saubere Prozesse mitten im Chaos zu definieren und uns generell voranbringen. Das Business Model Canvas ist so ein Tool, oder auch die Lean-Startup-Methodologie. Doch irgendwie werden sie oft nur sehr oberflächlich gelehrt, und demzufolge dann falsch benutzt. Warum du es dann aber gleich ganz lassen kannst und wie du es richtig machst.

Dienstag,
27.09.2022

Inhalt: 

  1. Lean Startup: Die wahrscheinlich missverstandenste Methodologie der Welt
  2. Business Model Canvas: Bitte nicht einfach nur ausfüllen!
  3. Wie Du nicht auf die Show reinfällst
  4. Fazit – echtes Wissen lohnt sich immer

 

1. Lean Startup: Die wahrscheinlich missverstandenste Methodologie der Welt


Ja, dies ist mal wieder einer dieser Artikel, in dem ich mich über die schlechten Coaches, die schlechte Lehr- und Lernkultur der deutschen Startup-Szene und überhaupt deren Niveau auslasse. Dabei bin ich nach wie vor ein großer Fan der Szene – nirgendwo sonst habe ich mich je so wohl gefühlt. Das wollte ich vor dem großen ABER unbedingt noch betont haben.

Denn es tut mir auch immer wieder fast körperlich weh, wenn ich sehe, wie eines der wertvollsten Frameworks, eine Sammlung von Wissen und Methoden, die so unglaublich gewinnbringend sein kann, so missbraucht wird. Ich spreche von Eric Ries und seiner Lean-Startup Methodologie.

Es geht schon damit los, dass in Deutschland fast immer nur von der Methode oder Methodik gesprochen wird. So sehr, dass sogar die Lektorin meines Buches noch einmal bei mir nachgefragt hat, ob ich mir wirklich sicher bin, dass es eine Methodologie ist. War ich, bin ich. Denn es geht hier um viel mehr als nur um die eine Methode, es ist ein ganzes System aus Methoden, die man spezifisch für das eigene Startups auswählen und anpassen kann. Und auch unbedingt sollte.

Doch die einzelnen Methoden werden ebenso verbogen, und vor allem: bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Denn Ries’ Vorgehen ist ein wissenschaftliches, seine Haltung die eines korrekten Wissenschaftlers, der immer nur Annahmen überprüft, dabei möglichst unvoreingenommen die Gegebenheiten analysiert und vor allem ein möglichst sauberes Experiment-Setup entwickeln will, inklusive der zugehörigen Metriken. Aus seinem Build-Measure-Learn-Zyklus, der eigentlich eine Serie von Experimenten zur Überprüfung einer bestimmten Annahme im Startup beschreibt (zum Beispiel: “Kundengruppe x nimmt Produkt in Ausführung y an.”), wird dann ein: Produkte möglichst schnell auf dem Markt werfen und gucken was passiert.

Ja, natürlich beinhaltet dieses Vorgehen, dein eigenes Produkt in einer nach deiner eigenen Wahrnehmung “unperfekten” Version auf die potenziellen Kunden loszulassen. Von “schnellstmöglich” auf den Markt schmeißen ist sie aber so weit entfernt wie die deutsche Bürokratie von Unternehmerfreundlichkeit. Denn um valide Ergebnisse zu erhalten, musst du auch ein Produkt haben, das zumindest soweit ist, das Problem, gegen das es kreiert wurde, auch tatsächlich für die Kunden lösen zu können. Und von “einfach mal gucken, wie die Kunden reagieren” bekommst du auch keine validen Daten. Zum sauberen Versuchsaufbau gehört zum Beispiel, dass du genau definierst, wie du das Produkt den Kunden nahebringen willst und welche Reaktionen du erwartest. Also zum Beispiel, eine Landingpage mit einem “Kaufen-Button” aufzubauen und zu messen, wie viele nach der Produktansicht auch wirklich darauf klicken. Oder auf eine Messe zu gehen und zu zählen, wie viele Gespräche du führst und wie viele Leads oder sogar Verkäufe du dort generieren kannst.

Das allerdings bringt uns direkt zum unbeliebtesten Teil, den fast alle Trittbrett-Fahrer des Lean-Startup-Erfolgs auslassen: es braucht Metriken. Ohne geht es einfach nicht, das Experiment ist nicht vollständig, die Ergebnisse völlig ohne Aussage. Was messe ich, und ab wann ist es gut? Wenn ich also eine Landingpage habe, und, sagen wir, 100 Seitenbesuche generieren kann, wie viele “kaufen”-Clicks bestätigen dann meine These? 5, 10 oder 50? Mehr oder weniger? Oder wenn ich auf die Messe gehe und mit 100 Leuten spreche, wie viele muss ich dann von meinem Produkt überzeugen können? Wären 2 schon ein Erfolg oder ist alles unter 50 Mist?

Wenn ich schon einmal dabei bin: Wie komme ich überhaupt an die Website-Clicks und Gespräche auf der Messe, gibt es da nicht noch andere Einflussfaktoren, die ich messen und bewerten muss?

Ja, ich weiß, das ist wieder alles nicht so cool wie einfach mal machen und gucken, was passiert. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: DAS ist die Lean-Startup-Methodologie (beziehungsweise natürlich nur ein Teil davon), so wendest du sie (grob) an, so kannst du damit erfolgreich werden.

Mit “schnell was auf den Markt schmeißen und dann mal gucken” kannst du vielleicht den eigenen Puls besser hochbringen oder dich eher als GründerIn fühlen und horrende Summen für Berater mit bunten Zetteln ausgeben, die nicht verstanden haben, was sie da lehren – aber das war’s.

2. Business Model Canvas: Bitte nicht einfach nur ausfüllen!


Fast noch schlimmer wird es beim Business Model Canvas – ein eigentlich super sinnvolles und einfaches Tool, um eine Übersicht über dein Business zu bekommen. Wer mich kennt, weiß, ich arbeite sehr gerne mit dem Business Model Canvas. In fast allen meinen Workshops spielt es eine Rolle. Und jetzt kommt das Aber: ABER du musst es richtig benutzen, und das tun leider eher wenige.

Genau wie viele der Lean Startup-Methoden wird auch das eigentlich sehr sinnvolle Business Model Canvas gerne einmal seiner Essenz beraubt und so oberflächlich benutzt, dass man es sich eigentlich auch sparen könnte. Tatsächlich habe ich in meinen fast 10 Jahren in der Startup-Szene schon wesentlich mehr schlecht ausgefüllte Cavasses gesehen als solche, mit denen man wirklich arbeiten kann. Denn genau das ist das Schlagwort: arbeiten. 

Das Business Model Canvas ist nicht dazu da, dass es einfach irgendwie ausgefüllt wird. Solche Übungen sind eher was für Grundschulkinder. Doch leider tun die meisten genau das. Bei “Customer Segements”, also dem Feld für die Kundensegmente, lese ich dann nur so Dinge wie: “Überwiegend weiblich, 20-35 Jahre, mittleres Einkommen”. Das könnte zwar die Beschreibung der Kunden eines segmentierten Marktes sein, ist es aber nicht. Allzu oft habe ich nämlich genau so etwas bei Geschäftsmodellen gelesen, die eigentlich noch viel kleinere Nischen oder sogar eher den viel größeren Massenmarkt ansprechen. Diese voreingenommene Konzentration auf meist demographische Merkmale kann zu größeren Fehlern in der Strategie führen. 

Noch schlimmer wird es aber bei der “Value Proposition”, dem eigentlichen Wertversprechen des Startups. Hier lese ich fast immer reine Beschreibungen des Produkts oder der Dienstleistung, die das Startup anbieten will. Doch das Produkt selbst ist nicht das Wertversprechen. Eine Software zur Arbeitsorganisation ist kein Wertversprechen. Wenn man mit ihr aber angeblich seinen Tag angenehmer gestalten kann, ist das ein qualitatives Wertversprechen. Wird eher behauptet, man spart durch sie Zeit, ist das ein quantitatives. Kann man mit ihrem KI-gestützten Chat mehr Empathie in das Miteinander der Teams bringen (wie auch immer genau das gehen soll), ist das vielleicht eine Neuheit, die das Unternehmen gerne einmal ausprobieren will. Im Zweifel, um einfach vorne mit dabei zu sein und zu schauen, was es bringt.

Genau dieses Wertversprechen muss dann das Problem des Kunden lösen, sonst bringt das ganze Vorhaben nichts. Eine Tomatensuppe wird auch nicht gekauft, weil sie eine Tomatensuppe ist, sondern weil sich der Kunde vom Werteversprechen einer schnellen, gesunden Mahlzeit mit besserem Geschmack als bei der Konkurrenz angesprochen fühlt. Steht im Business Model Canvas dann nur “Tomatensuppe”, steht da eben nichts, womit man arbeiten, was man abgleichen, verbinden, überprüfen kann.

Ich könnte mir jetzt jedes Segment einzeln vornehmen, aber ich denke, der Grundsatz ist klar: Osterwalder und Kollegen haben sich bei der Ausarbeitung des Business Model Canvas tiefe Gedanken gemacht. Alles hängt zusammen, deswegen gibt es auch detaillierte Beschreibungen der einzelnen Unterkategorien, also zum Beispiel der oben erwähnten Arten des Wertversprechens oder der Typen von Kundensegmenten. Nur, wenn du wirklich mit diesen (oder auch weiteren, eine Weiterentwicklung ist ja nicht ausgeschlossen) Typen und Kategorien arbeitest, ziehst du aus dem Ganzen auch wirklich Informationen für dich heraus und kannst Zusammenhänge herstellen. Nur irgendwie scheint das kaum jemanden zu interessieren.

Doch die eigentliche Methode hält dich auch dazu an, tiefer zu gehen. Einfach “Online Marketing” oder “Instagram” in “Channels”, also die Kundenkanäle, einzutragen, ist nicht nur faul, sondern auch viel zu kurz gedacht. Denn hier geht es darum, den Prozess der Kundengewinnung vom ersten Kontakt bis zum Kauf detailliert zu durchdenken. Die meisten geben sich stattdessen mit dem eventuellen Eintrittspunkt in diese Customer Journey zufrieden. Doch das sagt dir noch lange nichts darüber, wie du letzten Endes einen Kunden wirklich gewinnst, wo deine Stärken und Schwächen oder vielleicht noch ungeklärten Punkte in diesem Prozess sind. Hierzu braucht es dann final natürlich noch die richtigen Kennzahlen, aber ohne eine saubere Aufstellung des gesamten Vorgangs kommst du gar nicht erst so weit.

Und gerade bei den eigentlich eher zahlenlastigen Themen wird es noch schlimmer: bei den Kosten wird einfach alles eingetragen, was einem so einfällt, bei den “Revenue Streams” steht vielleicht noch der Preis, aber keine klare Definition, was da genau wie verkauft, vermietet, geleast etc. wird.

Klar, das hört sich natürlich nach grauer Theorie an. Ist es auch irgendwie. Aber wenn du es richtig benutzt, ist es Theorie, mit der du dein Team auf eine Linie bringen kannst, das gleiche Verständnis für das eigene Business entwickeln kannst oder sogar Schwachpunkte aufdecken kannst.

Falsch verwendet ist ein langweiliges, sinnloses Stück Papier, mit dem du schlicht und einfach deine wertvolle Zeit als GründerIn verschwendet hast.

3. Wie Du nicht auf die Show reinfällst


Zeitverschwendung können sich GründerInnen aber seltenst leisten – also, solltest du es lieber ganz sein lassen? Nein, denn so vergibst du überaus wertvolle Hilfestellungen, die noch dazu günstig zu haben sind. Doch wenn du dir nicht sicher bist, wie du es vermeidest, dem nächsten Möchtegern-Experten aufzusitzen, hilft nur eins: selbst lesen.

Mit den Original-Büchern der “Erfinder” dieser und weiterer Methoden hast du dir eigentlich schon alles angeeignet, was du brauchst. Gerätst du dann doch noch in einen entsprechenden Workshop, kannst du es ja freiwillig richtig machen – auch wenn es dort nicht vernünftig erklärt und direkt mit den bunten Zetteln angefangen wird.

Du brauchst auch kein großes Vorwissen, musst weder BWL noch sonst etwas studiert haben – gesunder Menschenverstand reicht. Denn weißt Du, warum diese Werke so erfolgreich geworden sind? Nicht nur, weil ihre Inhalte funktionieren, sondern weil sie tatsächlich keine Experten brauchen, um sich zu erklären – alles ist so aufgebaut und erklärt, dass es der interessierte und engagierte “Laie” verstehen kann. Wenn das nicht cool ist, dann weiß ich es auch nicht.

Wenn Du dazu aber keine Zeit hast, solltest Du erst recht keine Zeit dazu haben, in irgendwelchen hippen Seminaren und Workshops herumzuhüpfen, von denen Du nicht sicher sein kannst, ob sie es Dir richtig erklären. Denn nochmal: falsch angewendet bringen die Tools nichts, wirklich gar nichts! Der Gedanke: “Na, so falsch kann es ja nicht sein, auch wenn vielleicht was Wichtiges fehlt” ist absolut trügerisch.

4. Fazit – echtes Wissen lohnt sich immer


Die Lust an der Zeitverschwendung ist mir bis heute ein Rätsel. Klar, man könnte meinen, dass die ach so hippen Coaches, die mit bunten Zetteln um sich werfen, aber nicht in der Lage sind, ein Werteversprechen formulieren zu helfen, es einfach nicht verstanden haben. Das will ich aber einfach nicht verstehen, denn schließlich ist es nicht so kompliziert.

Über die Jahre bin ich daher eher zu der Überzeugung gekommen, dass sie es einfach nicht verstehen wollen, da sich die ganze “Wir füllen mal dieses hübsche Plakat aus”- und “Wir bringen einfach mal was raus und schauen, was passiert”-Nummern besser verkaufen lassen. Auch, wenn es nicht funktioniert. Das hat wahrscheinlich wieder damit zu tun, dass die (meist öffentlichen) Auftraggeber häufig weniger Interesse daran haben, etwas wirklich voranzubringen und viel lieber cool sein wollen.

Gute, erfolgreiche Methoden und Methodologien sind aber eben selten cool, fancy und “schnell mal gemacht”. Sie haben eine gewisse Komplexität, erfordern gewissenhafte, saubere Arbeit – und ja, sie haben mit Zahlen zu tun. Aber nicht trotzdem, sondern deswegen sind sie bei korrekter Anwendung eben eines: erfolgreich.

 

Foto (oben): Pexels

Ruth Cremer

Ruth Cremer ist Mathematikerin und Beraterin sowie Hochschuldozentin auf dem Gebiet der Geschäftsmodelle, Kennzahlen und Finanzplanung. Als ehemalige Investmentmanagerin weiß sie, worauf Investoren achten und hilft auch bei der Pitch- und Dokumentenerstellung im Investitions- oder Übernahmeprozess. Seit 2017 ist sie als externe Beraterin an der Auswahl und Vorbereitung der Kandidaten in "Die Höhle der Löwen" beteiligt.