Mathe-Bashing und seine Folgen – auch für die Startup-Welt

Der folgende, für viele vielleicht lustige Post hat mich gestern schwer schockiert.

Immer wieder erlebe ich es auch in der Startup-Szene - diese Aversität gegenüber allem, was mit Zahlen zu tun hat. Dabei, habe ich das Gefühl, ist es gar nicht die Mathematik selber, die die Leute abschreckt. Denn eine Zahl durch eine andere teilen, das wird ja nun noch jeder - notfalls mit Taschenrechner - hinbekommen.

Doch das logische Denken scheint es, was aus der Mode geraten ist - Zusammenhänge herzustellen, aus einer Sache eine andere abzuleiten. Doch Investoren kehren sich gerade immer stärker ab vom großartigen Storytelling - und hin zu bodenständigeren, schneller wirtschaftlich tragbaren Geschäftsmodellen. Und wie bewerte sie das - genau, mit Zahlen.

Freitag,
13.01.2023

Inhalt:

  1. Warum das ganze Mathe-Bashing in unserer Gesellschaft nicht nur – aber auch – zu schlechteren Gründungen führt
  2. Es ist so viel mehr als nur Guacamole
  3. Warum GründerInnen einfach nicht daran vorbeikommen
  4. Ist mathematisches Denken das Ende des Storytellings?

 

1. Warum das ganze Mathe-Bashing in unserer Gesellschaft nicht nur – aber auch – zu schlechteren Gründungen führt

 

Der Post oben ist ein angeblich echter Post einer Frau oder eines Mädchens namens Amelie, der wohl viele Menschen zum Lachen gebracht hat. Mich nicht, ich habe mich erschrocken.

Die Post-Erstellerin beschwerte sich ursprünglich über die Mitarbeiterin eines Supermarktes, die ihr nicht weiterhelfen konnte, als sie „Guacamole“-Früchte suchte. Eine andere Nutzerin klärte sie dann darüber auf, dass sie wohl Avocados suchte. Doch die Post-Erstellerin hatte wohl irgendwo gehört, dass diese eine schlechte Umweltbilanz hätten, und erklärte, dann wohl lieber weiterhin den fertigen Dip zu kaufen. Auf die Idee, dass ein Dip, der aus Roh-Lebensmitteln mit einer schlechten Umweltbilanz hergestellt wird, diese wohl auch von seinen Bestandteilen übernimmt, kam sie irgendwie überhaupt nicht.

Amelie hält also offensichtlich nichts von Logik, und hat auch überhaupt kein Verständnis für Verarbeitungsprozesse und Lieferketten. Denn dann wäre ihr klar gewesen, dass Umstände, die zur Erzeugung bestimmter Rohstoffe geführt haben, sich nicht in Luft auflösen, wenn diese Rohstoffe verarbeitet werden. Denn um eine Avocado zu erhalten, benötigt es ca. 400 Liter Wasser. Ein großer Guacamole-Dip benötigt vielleicht 2 Avocados. Also werden zu dessen Herstellung schon einmal mindestens 800 Liter Wasser benötigt, wobei man sich die restlichen Zutaten noch gar nicht angeschaut hat. Grundschul-Mathematik. Eigentlich.

Doch genau die scheint in unserer Gesellschaft gar nicht mehr präsent zu sein. Generell ist Mathematik ja eher „uncool“. Oder, wie Hans Magnus Enzensberger (z.B. hier) es schon feststellte, es ist einfach weithin akzeptiert, wenn selbst gebildete Leute angeben, mit Mathematik nichts anfangen zu können. Doch das Problem ist nicht, wenn irgendjemand den Satz des Pytagoras nicht vernünftig wiedergeben kann oder eine Kurvendiskussion nicht hinbekommt. Das Problem ist, wenn alles mathematische so abgelehnt wird, dass selbst das schlichteste logische Denken auf der Strecke bleibt. Wie bei Amelie. Denn Logik ist eben auch Mathematik, beruht auf der gleichen Denkweise.

 

2. Es ist soviel mehr als nur Guacamole

 

Doch warum sollten Amelie und ihresgleichen sich nun unbedingt mehr mit mathematischem Denken und dessen Prinzipien befassen? Es gibt noch anscheinend so viele Berufe, die man auch „ohne Mathe“ ergreifen kann, wie oft gesagt wird. Schon in der Schulzeit gab es nicht wenige meiner KlassenkameradInnen, die auf die Frage, was sie später mal machen wollen, „Was ohne Mathe!“ antworteten. Nur ist dies schwerer, als uns oft glauben gemacht werden soll.

Denn man stelle sich einmal vor, die offensichtlich umweltbewusste Amelie arbeitet irgendwann im Projektmanagement (ohne um sich um die lästigen Budgets kümmern zu müssen, natürlich) und soll ein Produkt eines Unternehmens nachhaltiger machen. Rät sie dann dazu, zum Transport von Gütern lieber häufiger hin- und herzufliegen, weil dann die Flugzeuge leichter sind und ihre CO2-Emmission dadurch sinkt? Oder wird sie Erzieherin und glaubt, dass ihre Gruppe am meisten Papierflieger gebastelt hat, weil eines ihrer Kinder die meisten des ganzen Kindergartens geschafft hat?

Die Mathematik lässt uns nicht einfach in Ruhe, weil wir sie nicht mögen. Und wenn wir unser Leben lang immer verlangen, dass alles in unterhaltsame Stories verpackt wird, damit wir er verstehen, entgehen uns viele entscheidende Dinge. Wir denken ganz einfach an der Welt vorbei.

 

3. Warum GründerInnen einfach nicht daran vorbei kommen

 

Die wenigsten Startups wollen Guacamole produzieren. Gibt es ja auch schließlich schon genug, und, spätestens jetzt wissen wir, dass die Umweltbilanz dieser doch sehr leckeren Sauce nicht so toll ist. Doch keine Guacamole heißt eben nicht, keine Zahlen.

Spätestens in der jetzigen Krise hat endlich auch die Gründerwelt die Grenzen des Storytellings aufgezeigt bekommen – Investoren wollen plötzlich viel tiefer in die Zahlen gehen, pochen auf einer gewissen Wirtschaftlichkeit des Geschäftsmodells und fragen nach Kennzahlen, die die GründerInnen noch nie gehört haben. Plötzlich herrscht Panik in der Startup-Welt, Panik for den „gemeinen Zahlen-Fragen“. Doch warum ist die Frage nach der Conversion Rate im Warenkorb plötzlich gemein? Warum ist es fies, wenn ein Investor wissen will, welche Auslastung ein Vermietungsmodell denn erwartet?

Die Mathematik dahinter kann es eigentlich nicht sein. Denn für ersteres nimmt man die Anzahl der Kauf-Abschlüsse und teilt sie durch die Anzahl der (potenziellen) Kunden, die etwas in den Warenkorb gelegt haben. Das kann man Quotient nennen – muss man aber nicht, um es richtig zu machen – und man kann das dann mit 100 multiplizieren und hat eine tolle Prozentzahl, die hübsch aussieht im Pitch Deck und den Investoren genau die Information gibt, die sie haben wollen.

Im zweiten Fall schaut man, wie viel Einheiten man insgesamt vermieten könnte und teilt die Anzahl der tatsächlich vermieten Einheiten durch diese Zahl. Dann wieder das Ding mit der 100 und dem Pitch Deck und dem zufriedenen Investor. Dass kann doch einfach nicht zu schwer sein, oder?

Soviel zur Schulmathematik. Ich lehne mich jetzt einmal ganz weit aus dem Fenster und behaupte, die Rechnung an sich würde sogar unsere Amelie schaffen. Doch was macht GründerInnen dann soviel Angst? Zunächst einmal ist es wohl die Ungewissheit, welche Zahl einen Investor denn nun interessieren wird. Es scheint so viele zu geben. Hierbei hilft – wer hätte es geahnt – logisches Nachdenken. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach (Hilfe, schon wieder ein Teilgebiet der Mathematik, aber das ignorieren wir jetzt einfach) Fragen Investoren genau nach den Zahlen, die erfolgsbestimmend für das jeweilige Business sind. Und ganz ehrlich, wer würde in ein Gründerteam investieren, dass noch nicht einmal sagen kann, worauf es bei seinem Startup am meisten achtet, um erfolgreich zu werden? Man könnte also tatsächlich von ganz alleine darauf kommen, dass im eCommerce unter anderem diverse Conversion Rates wichtig sind, und die Auslastung meistens entscheidend ist, wenn man bestimmte Einheiten von irgendetwas vermietet.

Doch es gibt noch einen anderen Faktor, der die „Sache mit den Zahlen“ für viele GründerInnen so „fies“ macht: man kann die Zahl vielleicht noch erahnen und dann berechnen, aber was, wenn der Investor sie dann schlecht findet? Auch hier – Überraschung! – kann ein wenig logisches Denken Licht in die dunkelsten Ecken bringen. Denn hat man sich vorher Gedanken gemacht, welche Zahlen wichtig sein könnten, hat man einen großen Teil der Arbeit schon getan. Denn dann hat man schon einmal eine Begründung, warum diese Zahl etwas über das Geschäftsmodell aussagt und – wenn man sich nicht völlig dagegen wehrt – hat man auch gleich schon einmal darüber nachgedacht, warum das so ist. Logische Zusammenhänge erschließen sich, denn die besagte Conversion zeigt, wie gut die eigentlich schon zum Kauf geneigten Kunden dazu gebracht werden können, dann auch tatsächlich zu kaufen. Ist dieser Wert hoch, macht man schon einiges richtig, ist dieser Wert niedrig – nein, man macht nicht „irgendetwas“ falsch, sondern man sollte darüber nachdenken, was. Es gibt also wichtige Hinweise, in welche Richtung man Verbesserungen anstreben sollte. Man könnte zum Beispiel merken, dass man noch gar nicht die Zahlung mit einer bestimmten Zahlungsmethode anbietet, holt das schnell nach und schwupps – die Conversion bessert sich. Hätte man erst nach der passenden Geschichte gesucht, die einem diese Gedanken in unterhaltsamer Weise näher bringt, wäre einem wohl viel Umsatz verloren gegangen. Setzt man sich also mit den Mechanismen seines Geschäftsmodells auseinander, um die richtigen Kennzahlen zu finden, eröffnen sich oft Tatsachen, über die man besser schon vor dem Investorengespräch nachdenkt. Zumindest hat man aber die Chance – nach einer entsprechenden Recherche zu branchentypischen Vergleichswerten – Begründungen und Erklärungen für vermeintlich schwächere Zahlen vorzubereiten. Erklärungen, die tatsächlich das Investment retten können, wenn sie denn – logisch! – sind.

 

4. Ist mathematischeres Denken das Ende des Storytellings?

 

Wenn sogar ein Literaturwissenschaftler, der einmal einen Klassiker über die Wichtigkeit von Narrativen geschrieben hat, sich heute über deren sinnlose Aufwertung echauffiert, wird da schon etwas dran sein. Doch natürlich heißt das nicht zwangsweise, dass alles nur noch nüchtern-logisch sein muss. Mal ist es Zeit für das eine, Mal für das andere. Aber definitiv ist es Zeit, die sinnlose Abwertung der Mathematik endlich einmal zu beenden. Denn gerade für GründerInnen in der momentanen Marktlage kann einem das schnell böse um die Ohren fliegen.

Manchmal lässt sich auch beides verbinden, um einen logischen Gedanken einfach noch anschaulicher und dadurch verständlicher zu machen, und das ist auch ok. Nur sollten Geschichten nicht das Nachdenken ersetzen. Und gerade in der Startup-Welt ist nicht immer Zeit dazu, für alles und jedes eine Geschichte zu entwickeln. Denn das mathematische Denken hat einen entscheidenden Vorteil: es ist schnell, genau, präzise. Es löst Probleme im Idealfall sofort, oder zeigt auf, was man tun kann, um sie zu lösen.

Trotzdem würde ich mir liebend gerne Zeit nehmen, um Amelie die Geschichte von der Avocado zu erzählen, die sehr viel Wasser verschlingt, bevor sie zum Dip verarbeitet wird.

Foto (oben): Gefunden auf webfail: bit.ly/3ZzdLIT

Ruth Cremer

Ruth Cremer ist Mathematikerin und Beraterin sowie Hochschuldozentin auf dem Gebiet der Geschäftsmodelle, Kennzahlen und Finanzplanung. Als ehemalige Investmentmanagerin weiß sie, worauf Investoren achten und hilft auch bei der Pitch- und Dokumentenerstellung im Investitions- oder Übernahmeprozess. Seit 2017 ist sie als externe Beraterin an der Auswahl und Vorbereitung der Kandidaten in "Die Höhle der Löwen" beteiligt.