Zahlen-Wahrheit: Was wirklich schief läuft mit den Lebensmittel-Preisen

Trotz allem Gehype um Storytelling sind es oft die Zahlen, die erstaunliche Wahrheiten beinhalten. Und nach hunderten Coachings mit Startups aus dem Lebensmittelbereich würde ich behaupten, hier eine ganz gute Datenbasis zu haben. Mit dieser im Hinterkopf ist ein Blick auf die aktuelle Preissituation einfach nur erschreckend. Denn wieder einmal scheinen wir Menschen von den großen Konzernen einfach nur verarscht - man muss es leider so deutlich sagen - zu werden.

Mittwoch,
18.01.2023

Seit Monaten beherrscht das Thema Lebensmittelpreise immer wieder die Schlagzeilen. Zuletzt las man von einer REWE-Kundin, die sich über einen teueren Nuss-Snack beschwerte und deswegen prompt ihren Einkaufswagen stehen ließ sowie online verkündetet, dass sie dort auf Grund der viel zu hohen Preise nicht mehr einkaufen würde. Jetzt könnte man natürlich auch diskutieren, ob die Kundin nicht vielleicht dem ein oder anderen Irrtum unterlegen war, wenn sie in besagtem Laden auf Snäppchenjagd ging oder einen Nuss-Snacktopf für ein Grundnahrungsmittel hält, das immer und überall besonders günstig verfügbar sein sollte.

Doch Fakt ist, die Preise sind enorm gestiegen. Fakt ist aber auch, sie müssten gar nicht so stark gestiegen sein, würde die Hersteller “nur” die gestiegenen Rohstoffkosten auf die Kunden umrechnenen. Wobei man hier natürlich noch diskutieren kann, warum es eigentlich so selbstverständlich ist, dass – zumindest große – Unternehmen ihre Marge auf jeden Fall voll erhalten können und sämtliche gestiegenen Kosten sofort auf den Kunden umwälzen. Startups können das nicht, denn sollten sie bereits das Glück haben, in irgendeinem Supermarktregal angekommen zu sein, fliegen sie ganz schnell wieder raus, wenn sie einfach ihre Preise erhöhen. Einen leichten Anstieg der Rohstoffpreise oder Produktionskosten “schlucken” sie also oft einfach auf Kosten ihrer Marge. Wird es zu viel, gibt es oft Gespräche mit dem Markt, was denn den Kunden eventuell noch zuzumuten wäre. Das Ergebnis ist oft ein Kompromiss: ein Teil der gestiegenen Kosten wird an den Kunden weiter gegeben, den Rest muss das junge Unternehmen irgendwie verkraften.

Anders bei Konzernen. Sie geben nicht nur wie selbstverständlich alle gestiegenen Kosten weiter – sondern schlagen auch noch ordentlich drauf. Ein (fiktives) Beispiel in Zahlen: Hersteller Rot-Schwarz verkauft Nuss-Nougat-Creme für ca. 3 Euro netto. Im Handel kann man meistens mit ca. 1/3 Marge für den Markt rechnen, bleiben 2 Euro für Rot-Schwarz. Nehmen wir einmal großzügig (und vereinfacht) an, dass davon ca. 30 Cent Herstellungskosten sind, die sich nun verdoppelt haben. Man muss also nun 2 Euro – 60 Cent rechnen, statt wie bisher nur 30 Cent abzuziehen. Statt 1,70 Euro wie zuvor bleiben unserem Hersteller also nun “nur noch” 1,40 Euro.

Nun sind aber viele Lebensmittel um 30, 40 oder noch mehr Prozentpunkte im Preis gestiegen. Unsere Nuss-Nougat-Creme zum vormals – leicht gerundeten Bruttopreis inkl. Mehrwertsteuer – ca. 3,60 Euro – würde damit auf mindestens 4,68 Euro steigen. Das ist ein Nettopreis von circa 3,93 Euro, minus 1/3 Handelsmarge macht 2,59 Euro. Ziehen wir jetzt noch die erhöhten Herstellungskosten von 60 Cent ab, macht das also fast 2 Euro Marge für den Hersteller. Die Marge des Herstellers steigt als von 1,70 Euro auf 2 Euro pro Glas. Das sind rund 15%. Und das bei verdoppelten Herstellungskosten, die ja ebenfalls voll an die Kunden weitergegeben werden.

Kein Wunder, dass es einigen Märkten jetzt schon zu viel wird und sie mit Herstellern in Streit geraten, so sehr, dass sie manche nun völlig unverhältnismäßig im Preis gestiegene Artikel großer Marken nun nicht mehr anbieten wollen.

Nun könnten man sich aber weiter wundern, warum die Hersteller das denn so einfach durchsetzen können, immerhin leben wir – angeblich – in einem marktwirtschaftlichen System. Wenn sich also nun Rot-Schwarz so einen unfairen Mist ausgedacht hat, Grün-Gelb sich aber entscheiden würde, “nur”die gestiegenen Herstellungskosten an die Kunden weiterzugeben, würde deren Produkt nun – bei gleichem Ausgangspreis – circa 4,25 statt 4,68 € wie das von Rot-Schwarz kosten, und man wäre plötzlich das deutliche günstigere Produkt, könnte also darauf hoffen, dem Hauptkonkurrenten Marktanteile abzunehmen. Warum geschieht das nicht?

Nun, eine Möglichkeit ist, dass Grün-Gelb die Preiserhöhung seines Konkurrenten mitbekommen und sich schnell ausgerechnet hat, dass eine höhere Marge sich schneller oder besser auszahlt als mehr Marktanteile. Daher erhöht auch Grün-Gelb ganz schnell den Preis. Doch wäre das wirklich unternehmerisch sinnvoll, würde nicht jeder klar denkende Grün-Gelb-CEO erst einmal noch eine kleine Weile schauen, wie groß der Effekt der Kundenwanderung ist? Man könnte hier schließlich eine einmalige Chance verspielen. Und wie kann Schwarz-Rot überhaupt so selbstbewusst voranschreiten, wenn es doch seit jeher Grün-Gelb im Nacken hat und nicht weiß, ob der Erz-Konkurrent diesen Zug der Preiserhöhung nicht eiskalt in seinen Vorteil verwandeln könnte?

Man könnte fast meinen, die beiden hätten vorher miteinander gesprochen, um eine Win-Win-Situation zu erreichen. Denn wenn beide mehr oder weniger ihre Preise erhöhen, dürften sich ihre Marktanteile kaum verschieben, aber beide profitieren von einer höheren Marge. Genial, oder? Mit dem kleinen Problem, dass das hochgradig illegal wäre, denn so etwas nennt man Preisabsprache. In Deutschland ist das Kartellamt dafür zuständig, das dieses Verbot eingehalten wird und Zuwiderhandlungen aufgedeckt und bestraft werden. Und, gab es unter den zahlreichen Berichten über extrem gestiegene Preise im Lebensmittelbereich irgendwo eine Schlagzeile, dass das Kartellamt in einem oder mehreren Fällen, die besonders verdächtig erscheinen, ermittelt? Ich habe keine gesehen. Soviel zur Marktwirtschaft. Das „sozial“, das in Deutschland eigentlich auch noch dazu gehört, vergessen wir lieber ganz schnell komplett dabei, das führt nur zu noch mehr Frustration.

Doch zu einem solchen Gespräch hätten die Konzerne natürlich kein Startup eingeladen. Denn ohnehin gibt es hier ja das Problem, das alleine der Supermarkt Preiserhöhungen weniger tolerieren würde. Ein Öko-Nuss-Nougat-Startup – denn Startups im Foodbereich besetzen bekanntermaßen gerne die wachsende Nische der nachhaltig hergestellten und/oder gesünderen Lebensmittel – hat also schon vorher seine Creme für rund 4,60 Euro netto, also rund 5,50 Euro brutto verkauft. Doch gerade im Nachhaltigkeitsbereich sind die Herstellungskosten wesentlich teurer, man könnte zum Beispiel ganze 1,50 Euro hier anlegen, was für frühe Startups schon fast unrealistisch ist. Bei einem Handelspreis von wiederum 2/3 des Nettopreises, also rund 3 Euro, bliebe noch rund 1,50 Euro Marge. Wenn sich die Herstellungskosten hier auch verdoppeln, ist die Marge weg, das Unternehmen würde rein gar nichts mehr verdienen. Nach langen Gesprächen einigt man sich daher mit dem Supermarkt auf einen neuen Verkaufspreis von 5,90 Euro, das heißt circa 4,96 Euro netto, minus Handelsmarge sind das 3,27 Euro. Vielleicht lässt sich mit dem Markt reden, und er verzichtet vorübergehen auf ein wenig Handlesmarge, so dass dem Startup 3,40 oder 3,50 bleiben. Nach Abzug der Herstellungskosten hat sich seine Marge auf 40-50 Cent fast gedrittelt, was ich zur Zeit tatsächlich reihenweise beobachte. Viele akzeptieren es irgendwie, um überhaupt noch im Geschäft zu bleiben und nicht wieder vollständig aus den Supermärkten zu verschwinden. Manchen reißen dann die Fixkosten eine zu große Finanzierungslücke in den Cash-Flow und sie schaffen es nicht.

Die großen Lebensmittel-Konzerne werden jedoch aus dem Lachen nicht mehr herauskommen, schließlich verdienen sie sich gerade nicht nur dumm und dämlich, auch bietet sich die großartige Chance, einige dieser unliebsamen Konkurrenten endlich einmal loszuwerden, die schon seit Jahren die Verbraucher mit ihrem Geschwafel von Nachhaltigkeit und hochwertigen Zutaten beeinflussen. Wie praktisch!

Der Verbraucher hingegen verzweifelt darüber, denn nachdem die Energiekosten bezahlt und der Lebensmitteleinkauf erledigt ist, bleibt für viele für Kino, Sport oder Urlaub nicht mehr viel übrig. Eine Tatsache, die andere Branchen jetzt schon oder bald wohl auch stark zu spüren bekommen werden. Die Politik hingegen streitet lieber über Panzerlieferungen und Maskenpflicht in Bus und Bahn, da ist also – wie so oft – auch keine Hilfe zu erwarten. Nicht einmal die, dass bestehende Gesetze kontrolliert und für deren Einhaltung gesorgt wird, was schon eine große Veränderung bedeuten könnte.

Eine ausweglose Situation? Nicht ganz, schließlich ist noch ein wenig vom marktwirtschaftlichen Gedanken übrig, denn die endgültige Kaufentscheidung fällen immer noch die VerbraucherInnen. Und wenn man jetzt noch einmal genau hinschaut, ist in unserem fiktiven Nuss-Nougat-Beispiel etwas sehr Interessantes passiert: Der Unterschied zwischen dem Konzern- und dem Startup-Produkt betrug vorher 1,90 € – begründet durch die teureren Zutaten beim nachhaltigen Startup-Produkt. Nun liegt er bei nur noch 1,22 €, ist also nicht nur prozentual, sondern auch nominal stark gesunken. Dies ist natürlich von Produktgruppe von Produktgruppe unterschiedlich, doch tatsächlich rücken durch die beschriebenen Effekte Industrie- und Startup-Produkt preislich oft sehr, sehr nah zusammen.

Wenn also nun alle die Augen offen halten, aktiv vergleichen und immer, wenn sie es verschmerzen können, ein paar Cent mehr für Lebensmittel einer Startup-Marke auszugeben, dies auch tun, würden Rot-Schwarz und Gelb-Grün vielleicht doch noch Marktanteile verlieren. Alle anderen könnten vielleicht hier und da einmal versuchen, Nuss-Nougat-Creme selbst herzustellen. Das ist nicht nur günstiger und gesünder, sondern kann sogar Spaß machen und stiehlt den Konzernen – bei nur gleichbleibenden Verkäufen der Startups – auch wieder Marktanteile. Vielleicht haben wir also nun noch einen Grund mehr, den Planeten retten zu wollen, in dem wir bewusstere Kaufentscheidungen treffen. Falls es den immer noch gebraucht hätte.

Foto (oben): Screenshots von Schlagzeilen auf den Portalen von Tagesschau, HNA, Fokus

Ruth Cremer

Ruth Cremer ist Mathematikerin und Beraterin sowie Hochschuldozentin auf dem Gebiet der Geschäftsmodelle, Kennzahlen und Finanzplanung. Als ehemalige Investmentmanagerin weiß sie, worauf Investoren achten und hilft auch bei der Pitch- und Dokumentenerstellung im Investitions- oder Übernahmeprozess. Seit 2017 ist sie als externe Beraterin an der Auswahl und Vorbereitung der Kandidaten in "Die Höhle der Löwen" beteiligt.