Herr Lauterbach, KI-Dosis gefällig?

Wenn man zu viel Zeit hat, denkt man auch zu viel nach. In meinem Fall über Staatsausgaben, über vergessene Startups und eine drohende Klimakatastrophe, für die irgendwie nie jemand Zeit zu haben scheint. Eine Resümee eines krankheitsbedingt sehr ausführlich ausgefallenen Nachrichten-Scrollings.

Dienstag,
24.05.2022

Ich habe Corona. Ich weiß, ich bin spät dran. Die Welt bewegen schon längst andere Themen. Und mich sowieso. Ich habe in den letzten Wochen viele großartige Startups gecoacht, die Lösungen bieten, die wir so dringend brauchen. Sie haben soviel Mut, unglaubliches technisches Können und Visionen, die mir beim Gedanken daran rückwirkend noch eine Ganzkörper-Gänsehaut verpassen, obwohl ich vom Symptom des Schüttelfrosts glücklicherweise weit entfernt bin. Nur eines haben sie nicht: Geld, um das, was sie tun wollen, schnellstmöglich Wirklichkeit werden zu lassen. Ich muss schlucken, obwohl es zur Zeit das schmerzhafteste ist, das ich tun kann.

Und während ich mir meine Morgenration Ibuprofen zuführe, damit diese unmenschlichen Halsschmerzen nicht meine geplante Genesung stören, erspähen meine brennenden Augen doch noch eine Corona-Schlagzeile unter den Nachrichten: Minister Lauterbach bestellt mal wieder neue Impfstoffe. Und zwar so reichlich, dass man im Zweifel zügig ca. die Hälfte der Deutschen Bevölkerung impfen könnte. Den deutschen Steuerzahler kostet das alleine rund 830 Millionen für ein Kombi-Vakzin gegen die alten und neuen Varianten. Weil man ja nicht weiß, was im Herbst dominieren wird. Man will vorbereitet sein. Dafür bleiben auch die Impfzentren offen, das kostet ja auch nur schlappe 100 Millionen Euro. Im Monat. Und das ist ok, ich kann immer noch hoffen, dass schlaue Menschen berechnet haben, dass wir das vorsichtshalber tun sollen. Wenn das Leben retten könnte, bin ich völlig fein damit. Und scrolle weiter.

Während ich das nächste Päckchen Taschentücher öffne, spüre ich angesichts der Schlagzeile über das 15 Milliarden-Entlastungspaket den Widerstand, den ich eben noch wegschieben konnte, noch einmal wesentlich stärker. Dass man Impfstoff kauft, den man höchstwahrscheinlich wieder einmal wegwerfen wird, weil man sich für einen mehr oder weniger wahrscheinlichen Fall eines erneuten Pandemie-Ausbruchs rüstet, ok. Dass man aber Benzin und Diesel günstiger macht, damit Otto-Normal-Bürger mehr Geld in der Tasche hat, die durch hohe Energie- und Lebensmittelpreise zugegebenermaßen ein unschönes Loch bekommen hat, lässt mich zwischen zwei Hustenanfällen dann doch ziemlich wütend werden.

Davon abgesehen, dass so ziemlich sämtliche befragten WirtschaftswissenschaftlerInnen diese Maßnahme für volkswirtschaftlichen Blödsinn halten, wie ich noch vor der Ibuprofen-Mittagsration erfahren werde. Eine Regierung unter Beteiligung der Grünen verringert die Preise von umweltschädlichen Treibstoffen? Echt jetzt? Und deren Begründung ist schlicht und einfach, dass man sich eben geeinigt hätte. W.T.F.

Dass die Menschen in ihrer Pandemie-Panik akzeptiert haben, dass plötzlich Tonnen von zusätzlichem Müll anfielen, und dass Unmengen von Produkten wieder in Plastik eingeschweißt wurden, ist vielleicht nicht rational, aber zumindest emotional nachzuvollziehen. Was es nicht weniger schädlich macht. Aber jetzt kommt die Energiepreis-Panik und da dürfen dann plötzlich wieder altmodische Antriebe gefördert werden? Das übersteigt meine Empathie.

Weil ja auch niemand ahnen konnte, der sich in den letzten Jahren ein neues, zusätzliches und vor allem wenig Treibstoff-sparendes Auto gekauft hat, dass die Preise weiter steigen werden? Zugegeben, die krisenbedingte Schnelligkeit überrascht jetzt etwas, aber der Trend wohl kaum. Und ein Auto kauft man sich normalerweise ja auch nicht für 2 oder 3 Jahre. Ich muss an die Startups von letzter Woche denken, die mit den Wasserstoffantrieben, mit der fortschrittlichen künstlichen Intelligenz für e-Auto Ladeinfrastrukturen, und die, die ihr eigenes Leichtfahrzeug der Zukunft konstruieren.

15 Milliarden. Ich würde jetzt verächtlich schnauben, wenn meine verstopfte Nase das zulassen würde. Stattdessen lese ich etwas über Energiepreis-Steigerungsraten und was das für einen einzelnen Rentner bedeutet. Der übrigens – ebenso wie Studierende – wohl keine 300 Euro Energiezuschuss im Herbst bekommen wird. Unser Finanzminister schon, auch wenn er davon wohl 120 Euro Steuern zahlen wird. Immerhin.

Ich überlege, wie viele Startups ich alleine in den letzten Wochen kennengelernt habe, die Lösungen für beträchtliche Energie-Einsparungen entwickeln. Und wie viel Geld die wohl bräuchten, um im Herbst im breiten Maße einsatzfähig zu sein. 50 Millionen, vielleicht 100, denke ich. Einen Monat ohne Impfzentren (vielleicht jetzt im Sommer?). Aber Mathematiker sind ja bekanntlich schlecht im Kopfrechnen, und ich bin da leider keine Ausnahme. Ich werde wohl schon irgendwo einen Rechenfehler haben, hoffe ich.

Und dann, ganz weit unten, so weit, wie wirklich nur Leute scrollen, die krank und schniefend auf der Couch sitzen, sehe ich noch einen Artikel, dass Klimaforscher – mal wieder – gravierend Alarm schlagen. Die Erderwärmung schreitet schneller voran als gedacht, die Meeresspiegel steigen stärker – hört sich für mich alles ziemlich dramatisch an. Ich muss an die Startups denken, die ich letzte Woche kennengelernt habe, die neue, vollautomatische Fabriken zur Insekten-Proteinproduktion bauen oder Reste völlig neu aus- und aufwerten können, um die Nahrungsmittelindustrie zukunftsfähig zu machen. Die die meisten Brenngase aus der Industrie mit ihren neuartigen Maschinen obsolet machen können, oder die Verbrennung von giftigen Schlacken aus der Wasserklärung eliminieren. Könnten. Wenn sie denn den nächsten Entwicklungsschritt schaffen.

Doch für sie gibt es keine 15 Milliarden. Nicht einmal 830 Millionen. Für sie gab es Corona-Soforthilfen, deren Voraussetzungen sich ständig geändert haben, bis schließlich doch so gut wie alles zurückgezahlt werden musste. Für sie gab es KfW-Kredite, die aber Ewigkeiten nicht bearbeitet wurden, da die Banken völlig überlastet mit den massenweisen Anträgen waren. Und dann gab es noch so grandiose Dinge wie den Super-Gau der BAFA-Beratung für Corona-betroffene Unternehmen. Um nur ein paar wenige Dinge zu nennen.

Jetzt dürfen also die, die immer nur die kalte Schulter gesehen und falsche Versprechungen gehört haben, sich aber durch kluge Vorsorge oder Krisen-Kampfgeist retten konnten, fleißig weiter Deutschlands abstrus hohe Steuern berappen. Während sie doch bitte noch die Technologien entwickeln, die verhindern sollen, dass uns dieser Planet komplett um die Ohren fliegt. Doch Geld gibt es natürlich nicht dafür, nicht einmal Steuererleichterungen. Denn die sind ja schon an die Benzin- und Dieselfahrer gegangen.

Da kommt mir fast das Kaffee-Ibuprofen-Gemisch aus meinem Magen hoch. Da das aber mein gepeinigter Hals wirklich nicht aushalten würde, und ich nächste Woche wieder fit sein will, um den nächsten unterfinanzierten Weltrettern zur Seite zu stehen, egal, wie wenig das politisch gewollt sein mag, nippe ich an meinem Tee. Und überlege, was man mit den 100 Millionen aus einem einzigen Monat leere-Impfzentren-im-Sommer-schließen noch so alles auf den Weg bringen könnte. Vielleicht eine Software mit künstlicher Intelligenz für die Einkaufsoptimierung von Gesundheitsministerien. Oder eine ultra-realistische virtuelle Welt für unsere Politiker, die die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf unseren Planeten verdeutlicht.

Das Mathematik-Diplom scheint mich aus seinem Rahmen auf der Fensterbank anzustarren. Ja, mir ist schon klar, dass Ersteres höchstwahrscheinlich auch ein Taschenrechner lösen könnte und letzteres eine Entwicklungszeit beanspruchen würde, die, so wie es gerade aussieht, von der Realität locker überholt werden wird. Wir können auch unsere Führungsriege einfach so weitermachen lassen und irgendwann vor die Tür schicken, kommt auf das Gleiche raus.

Ich angle nach einem weiteren Taschentuch und scrolle ans Ende. Ich sehe noch den Wetter-Bericht. Inklusive einer Tornado-Warnung für Nordrhein-Westfalen. Sag ich doch. Herr Lauterbach, Herr Lindner, darf ich Ihnen die Tür aufhalten?

Foto (oben): Pixabay

Ruth Cremer

Ruth Cremer ist Mathematikerin und Beraterin sowie Hochschuldozentin auf dem Gebiet der Geschäftsmodelle, Kennzahlen und Finanzplanung. Als ehemalige Investmentmanagerin weiß sie, worauf Investoren achten und hilft auch bei der Pitch- und Dokumentenerstellung im Investitions- oder Übernahmeprozess. Seit 2017 ist sie als externe Beraterin an der Auswahl und Vorbereitung der Kandidaten in "Die Höhle der Löwen" beteiligt.