Liebe Grüne, bitte denkt (auch) an Eure Wähler!

Mein Shampoo ist ein Klotz, mein Tage­s­creme aus Kaffee-​Resten herge­stellt, meine Kosmetik vegan, meine Milch nicht von der Kuh und mein Spül­schwamm eine Gurke.
Eigent­lich klar, wen ich da wähle, könnte man meinen. Und dann bin ich auch noch Millen­nial, wohne in der Stadt und kann mir das eine oder andere Extra leisten. Präde­sti­nierte Grünen-​Wählerin, könnte man meinen. Aber so einfach ist das nicht.

Dienstag,
24.05.2022

Denn ich bin eben auch noch Unter­neh­merin. Und ich arbeite mit Star­tups. Locker zwischen 150-200 neue Unter­nehmen lerne ich pro Jahr kennen. Viele, sehr viele von ihnen, stellen Dinge wie mein Shampoo, meine Tage­s­creme oder meinen Spül­schwamm her. Andere recy­celn in großem Maße, woran bisher niemand gedacht hat, erfinden plas­tik­freie Verpa­ckungen oder kämpfen gegen Lebens­mit­tel­ver­schwen­dung. Lauter Dinge, bei denen die Grünen eigent­lich laut jubeln und Beifall klat­schen müssten. Aber ich höre nichts. Denn wenn sie es tun, tun sie es viel zu leise.

Star­tups, Grün­de­rInnen und Selbst­stän­dige haben nicht viel Platz in ihren Wahl­pro­grammen, noch weniger in ihrem Wahl­kampf. Klar, wir sind auch keine große Wähler­gruppe. Und tradi­tio­nell eher FDP-​Klientel. Aber auch das hat sich geän­dert. Seit Gene­ra­tion Y und Z gründen, hat sich sowieso vieles geän­dert. Und es wird sich noch viel ändern, wenn unsere Unter­nehmen wachsen. Zuerst wurden allzu starre Hier­ar­chien abge­schafft. Wir haben Home­of­fice und remote Arbeiten lange vor Corona entdeckt, wir wissen, dass diverse Teams produk­tiver und inno­va­tiver sind, dass Menschen nicht besser arbeiten, wenn sie ständig kontrol­liert werden und dass patri­ar­cha­li­sche Struk­turen ein Unter­nehmen eben nicht voran­bringen, sondern nur die Männer auf den oberen Etagen. Ok, nicht alle von uns haben alles kapiert, aber gegen­über dem, was vor uns war, haben wir schon einiges verän­dert. Vielen von uns ist da die FDP zu „alte weiße Männer“-​mäßig.

Das mag jetzt alles sehr pauscha­li­siert sein, aber ich bin sicher, der riesige Nachhaltigkeits-​Trend bei Star­tups ist nun wirk­lich unbe­streitbar. Und dann gibt es noch die Gen Y und beson­ders Z mit ihrem stär­keren Drang zu Unab­hän­gig­keit und Selbst­ver­wirk­li­chung und ihren „neuen“ Berufen, den Influ­en­cern, Blog­gern oder eTea­chern. Solche Berufe – ob nun kurz- oder lang­fristig – übt man nicht im Ange­stell­ten­ver­hältnis aus. Eine große Menge junger Menschen, denen Klima und Umwelt sehr am Herzen liegen, dies teil­weise sogar als Grund­lage für ihr Busi­ness genommen haben, ist oder wird in ihrem Leben einmal selbst­ständig sein.

Und das, liebe Grünen, scheint Euch irgendwie nicht so wirk­lich klar zu sein. Denn eigent­lich müsstet Ihr – aller­spä­tes­tens seit dem riesigen Nachhaltigkeits-​Trend in der Startup-​Szene, der nun auch schon einige Jahre anhält – Verfechter der kleinen Unter­nehmer, der Selbst­stän­digen und Star­tups sein. Denn wir werden immer mehr. Und noch mehr. Mit jeder Gene­ra­tion, die die Schulen verlässt.

Digi­ta­li­sie­rung sei auch Euer großes Thema – so habe ich es gestern von Eurer Bundes­vor­sit­zenden – glaube ich – nach dem für Euch tollen Ergebnis bei der NRW-​Landtagswahl gehört. Davon habe ich bisher nicht so viel gemerkt. Wann kann man denn nun online ein Unter­nehmen gründen, wann muss man nicht mehr für jeden – Entschul­di­gung – Mist – zum Notar rennen? Warum müssen sich 17-​jährige tatkräf­tige Menschen mit tollen Grün­dungs­ideen mona­te­lang mit Gerichten rumschlagen, um endlich geschäfts­fähig zu sein?

Liebe Grünen, denkt doch bitte daran, in genau diesen Gruppen habt ihr eine unglaub­lich hohe (poten­zi­elle) Wähler­schaft. Selbst als ich noch ein Kind war, wurde schon prognos­ti­ziert, dass ihr in 20 Jahren die führende Partei sein würdet. Das hat nicht geklappt, weil Eure Wähler-​in-Spe teil­weise von der Wirk­lich­keit einge­holt wurden, weil sich ihre Prio­ri­täten verschoben haben – weil Ihr sie irgendwo unter­wegs zum Erwach­sen­werden verloren habt. Haben sie nun ihre Ideale aufge­geben oder habt Ihr sie darin enttäuscht, diese Ideale mit der Realität zu verhei­raten? Und nein, ich rede nicht von Kompro­missen. Denn es gibt sie jetzt schon, die Millio­nen­schweren Unter­neh­me­rInnen ohne eigenes Auto, die Firmen­chefs und -​chefinnen, die ihr komplettes Unter­nehmen nach­haltig aufstellen, einfach aus Über­zeu­gung – und trotz Mehr­kosten. Und damit absolut fein sind. Ich rede davon, dass es mit Klima und Umwelt alleine eben nicht getan ist, wenn man wirk­lich etwas verän­dern will.

Liebe Grünen, was ich mir wünsche, ist, dass Ihr Euch auch genau diesen Menschen – vielen Eurer Wähler – mehr verpflichtet fühlt. Dass ihr einen Teil Eurer Energie fortan auch in Themen steckt, die kleinen Unter­neh­me­rInnen und Selbst­stän­digen das Leben einfa­cher machen, denn genau diese Menschen sind auf Eurer Seite. Sehr, sehr viele davon wählen Euch. Noch. Und haben eine sehr ähnliche Vision von der Zukunft. Sie helfen schließ­lich mit ihren Unter­nehmen mit, diese auch zu reali­sieren. Ihr braucht sie. Aber sie brau­chen auch Euch.

Denn wo wart Ihr, als die junge Gene­ra­tion fort­wäh­rend am stärksten von den Corona-​Maßnahmen gebeu­telt wurde? Wo war Euer Aufschrei, als die Sofort­hilfen dann doch zurück­ge­zahlt werden sollten, die KfW-​Kredite nicht gut funk­tio­nierten, viele Studie­rende Ihr Studium abbre­chen mussten, weil Ihr Nebenjob wegfiel? Auf jeden Fall wart ihr zu leise.

Wo seid Ihr, wenn es um Steuern für kleine Unter­nehmer geht? Warum sind sie so kompli­ziert und vor allem (auch) für die, die gerade starten, so unglaub­lich hoch? Warum dürfen Finanz­ämter Voraus­zah­lungen ansetzen, die – obwohl nicht reali­täts­kon­form – ein Unter­nehmen einfach mal killen können, nach dem es kaum ange­fangen hat? Warum kommt da so wenig Meinung von Euch?

Weil Ihr glaubt, das sind nicht Eure Themen?

Liebe Grünen, genau DAS sind Eure Themen. Denn in der Gene­ra­tion Y und Z sind Eure Wähler. Die jungen und ganz jungen Menschen in den Städten, die eine neue Gesell­schaft, eine neue Welt gestalten wollen. Das sind die, die – wenn sie noch nicht komplett Politik-​verdrossen sind – auf Euch zählen. Klar, es wäre einfa­cher, sich ein biss­chen zu verbiegen, um auch einige Stimmen bei den etwas umwelt­be­wuss­teren oder von den „großen“ Parteien enttäuschten älteren Wählern zu bekommen. So werdet Ihr sicher­lich noch einige Zeit stabil dritt­stärkste Partei bleiben. Aber ist es das, was Ihr wollt?

Bei der letzten Bundes­tags­wahl habt Ihr nach den Sternen greifen können, aber schon Euer Wahl­pro­gramm hat absehen lassen, dass zu viele Verbote keine Leiter bauen können, die hoch genug ist, sie jeweils zu errei­chen. Ihr habt viele verschreckt, die eigent­lich fest vorhatten, Euch zu wählen. Eben die mit festen Shampoo zu Hause, die mit den Gurken-​Spülschwämmen. Und vor allem eben die, die solche Ideen haben und umsetzen.

Liebe Grünen, Ihr habe ein sehr gutes Wahl­er­gebnis in NRW erreicht. Ihr habt ganze sieben Direkt­man­date geholt – eines davon in meinem Wahl­kreis. Ich bin sicher, nicht nur Eure Wähler werden nun genuss­voll zusehen, wie sich die CDU verbiegt, um zu Euch zu passen. Aber sie wünschen sich auch, dass Ihr das nutzt. Gerade NRW hat riesige Aufgaben vor sich im Bereich Klima und Umwelt. Aber mindes­tens genauso große wenn es darum geht, die Wirt­schaft in dieser Rich­tung umzu­bauen. Und ich verspreche Euch, es wird nicht ohne uns gehen. Nicht ohne die mit den neuen Ideen, dem Mut, Dinge anzu­pa­cken und anders zu machen als je zuvor. Denkt doch ab und an mal an uns, denn dann könnte es viel­leicht doch ganz gut passen mit uns. Aber das ist natür­lich kein „Wahl“-​Versprechen 😉

Foto (oben): https://www.focus.de/politik/deutsch­land/landtagswahl-​in-nordrhein-westfalen/im-​ueberblick-ergebnisse-der-landtagswahl-in-nrw-prognosen-und-hochrechnungen-im-ueberblick_id_97036649.html (Zugriff: 24.05.2022)

Ruth Cremer

Ruth Cremer ist Mathe­ma­ti­kerin und Bera­terin sowie Hoch­schul­do­zentin auf dem Gebiet der Geschäfts­mo­delle, Kenn­zahlen und Finanz­pla­nung. Als ehema­lige Invest­ment­ma­na­gerin weiß sie, worauf Inves­toren achten und hilft auch bei der Pitch-​ und Doku­men­ten­er­stel­lung im Investitions-​ oder Über­nah­me­pro­zess. Seit 2017 ist sie als externe Bera­terin an der Auswahl und Vorbe­rei­tung der Kandi­daten in "Die Höhle der Löwen" betei­ligt.