Werte statt Labels! Warum ich einen Wurm gegessen habe

Es ist schön, Begriffe zu haben, die einem helfen, sich zu orientieren. Oder komplexe Zusammenhänge besser verständlich machen. Doch wenn es nur noch um die Labels geht, um das, was außen drauf steht, dann läuft etwas gehörig schief.

Dienstag,
13.12.2022

Inhalt

  1. Labels: Wozu sollten sie da sein?
  2. Warum die eigentlichen Treiber WERTE sein sollten

 

1. Labels: Wozu sollten sie da sein?

 

Ich bin Vegetarierin, seit nunmehr fast 25 Jahren. Zumindest sage ich das immer. Zum Beispiel dann, wenn ich irgendwo eingeladen bin. Das mache ich nicht, damit die Menschen meine ökologische Lebensweise bewundern (würde bei meinem Reiseaufkommen wohl auch nicht funktionieren), sondern, um es der Gastgeberin oder dem Gastgeber einfacher zu machen. Denn unter Vegetarismus hat man eine gewisse Vorstellung – ok, die Frau ist keine Tiere, aber Käse, Milch und Eier sollten fein sein.

Was Menschen davon halten, oder ob sie alles über meine Ernährung zu wissen glauben, wenn sie das Wort “Vegetarierin” hören, ist mir herzlich egal. Ich bin lange darüber weg, mich darum zu scheren, wenn jemand unbedingt darüber urteilen will, was ich NICHT esse. Die Entscheidung, bestimmte Dinge nicht zu essen, habe ich vor langer Zeit getroffen, um mehr mit meinen eigenen Werten in Einklang zu leben. Die Nutztierhaltung widersprach diesen Werten extrem. Doch nicht alles, was man als Vegetarierin normalerweise nicht isst, will man der Bezeichnung gerecht werden, widerspricht ihnen. Muscheln zum Beispiel sind für mich weitestgehend ok. Insekten übrigens auch.

Jetzt könnte man glauben, dass da ein Konflikt besteht. Denn wenn ich Muscheln essen würde (oder eben auch Insekten) wäre ich ja keine Vegetarierin mehr, dürfte den Begriff also streng genommen auch nicht mehr für mich nutzen. Doch das ist mir herzlich egal. Denn wie gesagt, nutze ich den Begriff nur, um es mir oder anderen Menschen einfacher zu machen, für nichts sonst.

Und ich bin fest davon überzeugt, dass das in allen Lebensbereichen, auch in der Geschäftswelt, und ganz besonders auch als Startup, mehr als sinnvoll ist. Denn in den letzten Jahren habe ich einen wahren Label-Wahn in der Startup-Szene erlebt. “Wir sind ein B2B-SaaS-Modell”, “Wir machen D2C Marketing mit user generated content”. Nicht nur, dass dieser Abkürzungswahn auf die Dauer der Verständlichkeit einfach nicht dienen kann, sorgt die Vielzahl der Klassifizierungen auch noch für ein ausgeprägtes Bullshit-Bingo-Gefühl. Denn Label zu benutzen, um schick und kompetent zu wirken, so, als ob man sich auskennt, “bei den Großen mitspielen kann”, wem bitte bringt das etwas. Bei vielen Gründern, die ich so reden höre, habe ich sogar das Gefühl, dass sie gar nicht so 100%ig wissen, was wirklich hinter den Begriffen steckt, mit denen sie da so um sich werfen.

Wenn das passiert, dient uns die Sprache nicht mehr, sondern wir dienen ihr, lassen uns von ihr verbiegen. Im Extremfall habe ich sogar schon erlebt, dass GründerInnen begannen, ihr Geschäftsmodell zu überdenken, einfach nur, weil sie mit ihrem – meistens sogar vielversprechenden – bestehenden Geschäftsmodell nicht in die bisher geläufigen Kategorien passten. Sie hatten dann Angst, Investoren würden sie ablehnen, weil sie keinen der schicken  Begriffe ehrlich benutzen konnten.

Ich müsste also auf meine geliebten Muscheln verzichten, damit ich Vegetarierin bin, weil sonst die Leute enttäuscht sein könnten, und Restaurants mich nicht mehr bedienen wollten, denn sie könnten mich ja nicht klar einsortieren.

Doch glücklicherweise sind sowohl Menschen im Investment- als auch im Gastronomiebereich in der Lage, auch kleine Zusätze, Änderungen und Relativierungen intellektuell zu verarbeiten.

 

2. Warum die eigentlichen Treiber WERTE sein sollten

 

Puh, Glück gehabt, ich werde also auch weiterhin nicht verhungern, und Startups werden auch weiterhin Investoren finden, auch wenn sie vielleicht nicht ganz perfekt in eine bestimmte Schublade passen.

Doch wie geht man am Besten mit dem Wirrwarr an Labeln und Begriffen, an Klassifizierungen und Schubladen um, wann will man sich etwas aufkleben, wann will man es unbedingt umgehen? Die leuchtenden Leitfäden in diesem dunklen Dschungel sind vor allem die eigenen Werte. Denn wie hat man sein Startup grundsätzlich einmal definiert, was ist die große Vision dahinter?

Man kann durchaus Nachhaltigkeit zu seinem Firmenwert deklarieren, auch wenn noch nicht alle Komponenten des ersten Produkts diese Bezeichnung verdienen. Wenn man damit transparent ist, ist das vollkommen in Ordnung. Und man kann auch von einer starken Einbindung der Kunden in die Produktentwicklung sprechen, und dann erklären, dass momentan die genutzte Software und Prozesse noch nicht viel mehr zulassen als einen regen schriftlichen Austausch mit den KundInnen. Natürlich braucht man dann auch eine Zielvision und einen Plan, wie man da hinkommt. Denn Startups funktionieren eben so: es ist noch nicht alles perfekt, es gibt noch vieles zu tun. Solide Werte und eine klare Vision helfen auf diesem Weg jedoch mehr als jedes mit Panzertape zum Halten verdonnerte Label.

Was mich bewogen hat, “Vegetarierin” zu werden, hindert mich nicht daran, Muscheln zu essen. Und erst recht nicht Insekten. Denn nach allem, was wir heute wissen, sind Insekten eine gute und gesunde Eiweiß-Alternative, sollten wir unseren Planeten für unsere Ernährung nicht völlig zerstören wollen (was übrigens zur Folge hätte, dass das mit der Ernährung auch nicht mehr funktionieren würde, aber das scheint ein sehr schwierig zu verstehender Zusammenhang zu sein), werden wir nicht ohne Insekten auskommen.

Man merkt, Insekten zu essen, steht ganz und gar nicht im Widerspruch zu meinen Werten, eher im Gegenteil. Lebensmittel auf Basis gemahlener Insekten habe ich auch tatsächlich schon gegessen. Im tiefsten Afrika wurde mir dann aber praktisch eines angeboten. In seiner ganzen Form, nicht gemahlen, nicht irgendwo untergemischt.

Die Aufgeschlossenheit, Neues ohne Vorbehalte zu probieren, würde ich ebenfalls zu meinen Werten zählen. Abgerundet wird dies von der Rationalität, die zwischen einem ganzen Wurm- und Grillenmehl-Pasta keinen wirklichen Unterschied feststellen kann.

Und da ich nicht nur labern (bzw. schreiben) will, und sich in Form dieser nach simbabwesischem Originalrezept zubereiteten Würmern eine grandiose Gelegenheit ergab, habe ich zugegriffen.

Tatsächlich hat er sogar recht gut geschmeckt. Macht mich das jetzt weniger zur Vegetarierin? Ich finde, eher noch mehr.

 

Photo (above): Ruth Cremer

Ruth Cremer

Ruth Cremer ist Mathematikerin und Beraterin sowie Hochschuldozentin auf dem Gebiet der Geschäftsmodelle, Kennzahlen und Finanzplanung. Als ehemalige Investmentmanagerin weiß sie, worauf Investoren achten und hilft auch bei der Pitch- und Dokumentenerstellung im Investitions- oder Übernahmeprozess. Seit 2017 ist sie als externe Beraterin an der Auswahl und Vorbereitung der Kandidaten in "Die Höhle der Löwen" beteiligt.